Ich hocke vor meiner Wäschekommode im Schlafzimmer, stehe unbedacht und ruckartig auf und knalle mit dem Kopf gegen die offene Schublade über mir. „Maaannnn!“ brülle ich und bemerke selbst, wie wütend und aggressiv ich von einer Sekunde auf die andere werde. Wie oft hat sich diese Szene in den letzten Monaten wiederholt. Ziemlich oft. Am Anfang wusste ich nicht so recht, woher diese Gefühle kamen. Klar, ich hatte mich gestoßen und deshalb erschrocken. Aber die Gefühlsausbrüche waren zu heftig, als dass sie allein darauf zurückzuführen wären. Bei der ich weiß nicht mehr wievielten Konfrontation mit der Schublade kam ich des Rätsels Lösung auf die Spur. Jedes Mal beim Aufprall fragte ich mich automatisch, was ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht hatte. Ich fühlte mich ungerecht behandelt! Hatte doch gar nichts Schlimmes getan, jedenfalls nichts, was ich in Zusammenhang mit dieser Bestrafung sehen konnte. Denn im Hintergrund flüsterte mir eine Stimme jedes Mal ganz subtil diesen Satz zu:
Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.
Wie oft habe ich dieses Mantra als Kind gehört und scheinbar ist es mir in Fleisch und Blut übergegangen oder zumindest tief in mein Unterbewusstsein eingedrungen. „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.“ Da schwingt so etwas gehässiges und bevormundendes mit, so ein „Ich hab es dir ja gleich gesagt“, „Hättest du bloß auf mich gehört“, „Wenn du brav gewesen wärest, dann wäre dir das nicht passiert.“
Oha, was passiert dann bloß erst bei den großen Sünden? Ich habe mich vor vier Jahren scheiden lassen und warte immer noch auf die Riesenschublade, die mir mit gewaltigem Schwung gegen die Birne knallt. Noch ist sie ausgeblieben. Aber Gott bestraft ja auch nur die kleinen Sünden sofort. Für die großen nimmt er sich ausgiebig Zeit, um einen mächtigen Plan auszuhecken oder mich einfach am Ende in die Hölle oder das Fegefeuer zu schicken.
Apropos Hölle: Letztens saß ich mit meinem Vater in der Küche und wir unterhielten uns über Gott. Nicht, dass wir das regelmäßig tun würden. Aber letztes Jahr bot sich mir ausreichend Gelegenheit, mich mit meinem Glauben zu befassen. Ich betreute eine Rollstuhlfahrerin, die sehr aktiv in der Kirche ist und so bekam ich zahlreiche Einblicke in ihr christliches Leben. Inspiriert durch diese Impulse, suchte ich auch das Gespräch mit meinen Eltern. Und in diesem Gespräch kam dann irgendwann die Hölle ins Spiel. Mein Vater ist 80 und ein junggebliebener, weltoffener Mann. Doch die kirchliche Software hat er damals noch in seiner reinsten Form auf seiner Festplatte installiert bekommen. Ich sah in diesem Gespräch die Angst in seinen Augen. Die Angst, am Ende womöglich doch in der Hölle zu landen. Ich war schockiert. Schockiert darüber, wie sehr die Kirche mit dem Druckmittel Angst arbeitet(e?), um uns gefügig zu machen. Mir war das nicht immer so klar. Und dass diese Software auch auf mich ausstrahlen könnte, war mir ebenso wenig klar. Wäre ja aber auch extrem blöd für die Kirche, wenn es jedem so bewusst wäre.
„Wenn Sie ihr Vermögen der Kirche überlassen, ist Ihnen ein guter Platz im Himmel sicher.“ Diesen Satz sagte ein Pfarrer vor nicht allzu langer Zeit zu einer alten alleinstehenden Dame, die unsicher war, was sie mit ihrem Vermögen anstellen solle. Dies erfuhr ich von einem Anlageberater, der aus ethischen und moralischen Gründen mittlerweile stark mit seinem Job hadert. Wenn die Dame also ihr Geld einer gemeinnützigen Stiftung gespendet hätte – das wäre nämlich die Alternative gewesen – dann wäre die VIP-Platz-Reservierung im Himmel futsch gewesen. Ja ne, ist klar!
Das Ding mit der Kirche ist ja nicht durchweg schlecht. Nein, im letzten Jahr machte ich auch so manche positive Erfahrung. Zum Beispiel hatte ich an Silvester Dienst bei meiner Rollstuhlfahrerin und feierte den Jahreswechsel mit ihr in einer Klosterkapelle. Ich glaube ich kann sagen, dass das eines der schönsten Jahreswechsel war, an die ich mich erinnere. Es war berührend und bewegend so still und bewusst ins neue Jahr zu gehen. Überhaupt sitze ich gerne in Kirchen. Am liebsten allein. Dann sind sie wahre Kraftorte für mich und ich fühle mich verbunden, beschützt und gestärkt. Auch hatte ich in diesem Kloster interessante Gespräche mit einigen Geistlichen, die mich sehr inspiriert haben. Manche haben mich aber auch gewaltig abgeschreckt.
Ich glaube an die Schöpferkraft der Natur und daran, dass alles mit allem verbunden ist. Ich glaube auch, dass es mehr gibt als dieses irdische Leben. Ob ich das als Gott bezeichne, als Universum oder “Mathilde”- so nennen die Handwerker auf der Waltz ihren “Gott”, das sei jedem selbst überlassen. Ich glaube, jeder darf seinen eigenen Zugang zu seiner Form von Spiritualität haben – so lange er anderen damit nicht schadet. Ich glaube, es ist sogar sehr wichtig, sich für seine Spiritualität zu öffnen und seinen eigenen Weg zu finden.
Aber an eines glaube ich definitiv nicht: Dass der liebe Gott kleine Sünden sofort bestraft! Nein, ich brauche keine Religion, die mir sagt, was gut oder schlecht ist und was ich tun muss, um in den “Himmel” zu kommen. Und auch keine Religion, die meint, die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben mich gelehrt, dass es sich lohnt dem Leben zu vertrauen. Und wenn ich “dem Leben vertrauen” sage, dann könnte ich das genauso gut auch “Gottvertrauen” nennen.
„Alle, die nach der Wahrheit suchen, suchen in Wirklichkeit nach Gott”, sagte letztens jemand zu mir. Ich konnte ihm da nicht widersprechen und ehrlich gesagt klingelte es in dem Moment ganz gehörig in mir.
Leicht ist dieser Weg nicht und ganz sicher werde ich hierfür nicht mit einem Job in der Vorstandsetage belohnt. Aber mit einem lebendigen Leben. Und das habe ich mir gewünscht.
Ich habe mir übrigens nun angewöhnt, die Schublade zuzumachen, bevor ich in die Hocke gehe.