„Nächstes Wochenende bin ich mit Pia in Köln verabredet.”
„Ah, Karneval feiern.“ schließt meine Freundin Daniela aus meiner Ankündigung.
„Nein, eigentlich nicht. Vielleicht auch. Aber nicht nur. Wir sehen uns einen Wagenplatz an.“
„Wagenplatz? Was ist das denn?
“Ein Platz, auf dem Leute in ihren Bauwagen leben. Mehr weiß ich auch noch nicht.“
Drei Tage und zwei Nächte wollen wir auf einem Wagenplatz mitten in Köln verbringen. Köln, die Stadt, in der ich die letzten zwei Jahre gelebt habe. Nicht in einem Bauwagen, sondern in einer ganz normalen WG. Nach meiner Wanderzeit zog es mich hierher.
Wenn ich an Köln denke, dann sehe ich warmes Rot und ganz viel Konfetti – was nur bedingt etwas mit Karneval zutun hat. Die Zeit in dieser Stadt war intensiv. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ich mir diese Stadt zu Fuß erobert habe. Woche für Woche war ich unterwegs und ließ ich mich auf meinen Füßen durch die Kölner Straßen treiben.
Gehen verbindet – mit Menschen und offensichtlich auch mit Städten.
Ich freue mich darauf, für ein paar Tage zurückzukehren. Und gleichzeitig habe ich ein mulmiges Gefühl dabei. Wie wird es sich anfühlen wieder dort zu sein? Mit dem Wissen im Gepäck, nicht mehr Teil dieser Stadt zu sein. Ich will es in den nächsten drei Tagen herausfinden. Und gleichzeitig will ich mit dem Experiment Wagenplatz testen, ob dies ein passender Ort und Rahmen wäre, um für einige Tage des Monats doch noch Bewohnerin dieser Stadt zu bleiben. Als Teilzeit-Kölnerin sozusagen.
Bis dahin sind noch einige Vorbereitungen zu treffen. „Es wäre gut, wenn wir ein bisschen Holz mitbringen. Natürlich haben sie auch welches da, aber ich hätte ein besseres Gefühl, wenn wir unser eigenes mitbringen. „Kein Problem, ich kümmere mich darum“, versichere ich Pia und denke dabei an den wohl sortierten Holzvorrat meines Vaters in der Garage.
Ich bin Pia dankbar, dass sie mir dieses Abenteuer ermöglicht und möchte mich auf jede sinnvolle Art erkenntlich zeigen. Nicht jeder kann einfach so auf den Wagenplatz spazieren und sich im Gästewagen einquartieren. Pia ist stolze Besitzerin Ihres “Wohnei‘s”, wie sie es liebevoll nennt, und wohnt selbst phasenweise auf einem solchen Platz. Sie hat somit die entscheidende Verbindung geschaffen. Und sie begleitet mich dorthin, um mich mit dieser für mich neuen Welt vertraut zu machen.
Pia habe ich vor drei Jahren auf meiner Wanderung in Metz (Frankreich) kennengelernt. Über Couchsurfing hatte sie mir einen Schlafplatz in ihrem Zimmer angeboten. Einige Wochen darauf überließ sie mir dann ihr ganzes Zimmer, weil sie selbst auf Reisen ging. Und so verbrachte ich zwei Wochen in Metz. In dieser verwunschenen, alten WG-Villa und tauchte für eine Weile in das französisch-metzianische Leben ein.
Ich mache mich also auf in den Schuppen meines Vaters und suche nach passenden Holzstücken, die klein genug sind, um sie im Ofen des Gästewagens zu verbrennen. Und auch klein genug, um sie in meinem Trekkingrucksack zu verstauen. Denn irgendwie muss ich das Holz ja durch die Stadt transportieren.
Ausgestattet mit einem 60-Liter-Rucksack voller Holz komme ich also in Köln an und mache mich inmitten des Karnevalstrubels auf den Weg zum Wagenplatz. Es ist ein seltsames Gefühl, mit einem Pack voll Holz auf dem Rücken in der Straßenbahn zu stehen, umringt von Indianern, Pippi Langstrümpfen und rot-weiß-gestreiften Jecken. Ich fürchte vor einer Kontrolle in der U-Bahn-Station, die mich dazu auffordern würde, meinen Rucksack zu öffnen. Wie sollte ich erklären, was sie vorfinden würden?
Die Straßenbahnen fahren nur sporadisch und so sitzen ich und mein Holz einen Großteil der Reisezeit an den Haltestellen Bonner Wall, Friesenplatz und Hansaring und beobachten Einhörner, Krümelmonster und Bären auf dem Weg zum nächsten Umzug.
Ich bin erleichtert, als ich das schwere Gepäck endlich vor dem Ofen im Gästewagen ablegen kann. Und gleichzeitig erstaunt, wie wenige Holzscheite ich aus meinem Rucksack befördere. Auf meinem Rücken fühlte es sich an wie ein Wochenvorrat. Mindestens. Doch jetzt, beim Auspacken, wird mir klar, dass die Menge maximal für den ersten Tag reichen wird. „Krass, das war doch gestern noch viel mehr“ versichere ich Pia, der ich in meiner Euphorie angekündigt hatte, dass wir uns um Holz keine Sorgen mehr machen müssen. Dazu kommt, dass die Scheite immer noch viel zu groß sind. Kaum habe ich das Holz also aus meinem Rucksack entladen und peinlich berührt neben dem Kamin platziert, wartet auch schon die nächste Lektion auf mich: Holz hacken.
Wir stapeln das Holz auf unseren Armen und balancieren damit zur Holzsammelstelle. Ich benutze das erste Mal in meinem Leben eine Axt und bediene eine Kreissäge, um die Scheite in ofengerechte Stücke zu zerteilen. Ist eigentlich gar nicht so schwer! Viel mehr noch: Es macht richtig Spaß!
Meine Aufgabe auf dem Wagenplatz in den nächsten zwei Tagen besteht im Wesentlichen daraus, das Feuer am Brennen zu halten. Klingt ganz einfach. Ist es aber nicht, wenn man in ein Gespräch oder in Gedanken vertieft ist und sich sein Leben lang darauf verlassen hat, dass die Heizung es schon richten wird.
Morgens, nach dem Aufwachen, geht der erste Weg nach draußen, zum Toilettenwagen. Ich fürchte an jedem beider Morgen den Schritt vor die Tür. Schlaftrunken und noch eng verbunden mit der Wärme meines Schlafsacks, geht es raus ins kalte Nass. Ich bin nicht die einzige, die zu diesem Zeitpunkt die Toilette aufsucht. An beiden Tagen nicht. Obwohl ich es mir wirklich gewünscht hätte. Also wirklich jetzt. Ich rieche deutlich, dass ich nicht allein bin und – ich weiß nicht wie ich es anders sagen soll – ich muss würgen. Das bin ich einfach nicht gewöhnt. Ja, ich ekele mich vor der natürlichsten Sache der Welt. Jeder muss es, jeder tut es. Doch jemand anderem dabei zuzuhören und zuzuriechen fällt mir schwer. Ich halte die Luft an und bringe es schnell hinter mich. Ich will vor meinem Toilettenpartner draußen sein und ihn möglichst auch nicht sehen. Will nicht wissen, wer der Ursprung von Geräusch und Geruch ist. Draußen angekommen atme ich erleichtert auf und vergesse das Erlebte recht schnell wieder, als ich die beiden Domspitzen entdecke. Ein Schlafplatz mit Domblick, was für ein Glück!
Ich wasche mich draußen an der Badewanne, neben dem bunten, mit Graffitis übersäten Toilettenwagen und sehe in dem über der Wanne angebrachten Spiegel die ursprüngliche Britta. Die ungeschminkte, zerzauste Britta. Beim ersten Mal erschrickt mich dieser Anblick. Beim zweiten und dritten Mal auch. Beim vierten Mal schaue ich einfach nicht mehr so genau hin. Dieses Spiegelbild hat wenig Ähnlichkeit mit dem aus meinem Badezimmer. Obwohl ich da auch morgens zerzaust und ungewaschen vor dem Spiegel stehe, sehe ich dort irgendwie anders aus. Zivilisierter. Weniger grau, weniger faltig. Ist es vielleicht das Tageslicht, dass alles aus einer unverfälschteren Perspektive wiedergibt? Ist DAS in Wahrheit die ECHTE Britta?
Erfrischt und summend kehre ich in unseren Bauwagen zurück und wir bringen gemeinsam das Feuer zum Lodern. Ich freue mich aufrichtig, als das Holz anfängt zu knistern und bin stolz, dass ich “beeindruckend wenig Pappe zum Anzünden gebraucht habe” – meint Pia. Erst danach gibt es Frühstück. Selbst gebackenes Brot und dazu Rohkost aus Kopfsalat, Möhren und Tomaten. Das schmeckt nach den ersten körperlichen Aktivitäten draußen gleich doppelt gut!

Dann, es ist bereits Mittag vorbei, ziehen wir los in die Stadt und schauen dem bunten, karnevalistischen Treiben zu. Wir stehen eine Weile am Rosenmontagszug, lassen uns mit Kamelle bewerfen, fangen ein Strüssje und ziehen gemütlich weiter Richtung Südstadt. Wir bahnen uns unseren Weg durch die angetrunkene Menschenmasse auf der Severinstraße, die sich und ihre Stadt zu „Ich bin nur ne Kölsche Jung“ feiert. Ich kann nicht anders, ich muss mitsingen. Immer wieder werden wir von schunkelnden Jecken in ihren Kreis eingeladen, doch das ist mir dann nüchtern betrachtet doch zu viel. Wir lehnen lächelnd und dankend ab und das ist ok. Das ist Karneval. Karneval in Köln. Minuten später laufen wir auf einer Seitenstraße hinter den Kehrwagen und den armen Männern her, die die Unmengen an Müll beseitigen, die Kamelle und Karnevalisten hinterlassen haben. Auch das ist Karneval. Karneval in Köln. Eine einsame, männliche Pippi Langstrumpf sitzt derweil auf dem Bürgersteig und grölt den Karnevalisten auf dem maximal 2 m entfernten Balkon ein „gib mir ein K!“ zu. Durch ein Megaphon. Ich muss schmunzeln.
Es wird kälter. Die Sonne steht schon tief am Horizont. Wir bewegen uns Richtung Rhein und überqueren unter dem Donnern und Vibrieren eines vorbeirauschenden Güterzuges die Südbrücke. Wir bleiben auf der Mitte der Brücke stehen und werfen einen Blick auf die Kölner Skyline. Hier zeigt sie sich von ihrer besten Seite. Der Dom, der Ehrenfelder Funkturm, die Kranhäuser und davor der Rhein. Alles fließt. Und so fließen auch wir weiter Richtung Poller Wiesen und spazieren am Rheinufer wieder gen Stadt auf die Severinsbrücke zu. Vom Karnevalsauflauf in der Severinstraße bis hierher sind es nur 30 Gehminuten und doch befinden wir uns einer völligen anderen Welt. Das beruhigende Plätschern des Rheinwassers, das am Ufer aufschlägt, der Wind, die Weite und außer uns fast keine Menschenseele. Herrlich. Ich brauche beides, stelle ich wieder einmal fest. Die trubelige Stadt und die menschenleere Weite.
Drei Tage später stehe ich in meiner Küche in Hövelhof und backe Brot. Seit langem mal wieder. Mir fehlen Walnüsse, die für das Rezept wichtig sind. Das Rezept habe ich vor drei Jahren – wen wundert es – auf meiner Wanderung von einer Familie in Trier bekommen, die mich für eine Nacht bei sich aufnahm. Meine Wagenplatzerfahrung hat mich dazu inspiriert, es mal wieder auszukramen. Ich erinnere mich an die Kiste Walnüsse, die wir von meinem Onkel bekommen haben und hole sie aus dem Vorrat. Und so knacke ich anfangs noch etwas widerspenstig und gelangweilt Walnuss für Walnuss. Es fängt an mir Spaß zu machen. Ich habe alle Zeit der Welt und sinniere über meine Zeit auf dem Wagenplatz und die Dinge, die mich in meinem Alltag, abseits des Wagenplatzes, mit der Ursprünglichkeit des Lebens verbinden.
Das Gehen ist so etwas Ursprüngliches für mich. Fast jeden Morgen bin ich nach dem Frühstück im Wald, um eine Stunde einfach nur zu laufen und dabei meine Gedanken schweifen zu lassen. Ich wache fast jeden Tag ohne Wecker auf. Meistens gegen 6 Uhr. Im Winter etwas später, im Sommer etwas früher. Ich schaue der Sonne oft und gerne beim Untergehen zu, wenn ich an meinem Schreibtisch oder im Garten auf dem Rasen sitze. Ich freue mich über Hasen und manchmal sogar Rehe, die vor meinem Fenstern vorbeistreifen und beobachte in meinen Pausen den eigenartigen Flugstil der Turmfalken, die sich im Giebel des Nachbarhauses eingenistet haben. Statt einem Wasserkocher steht ein alter Teekessel in meiner Küche. Ich gehe gerne und oft zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum Einkaufen und kaufe nur noch ein, wenn meine Vorräte wirklich leer sind. Es macht mir großen Spaß mit dem zu kochen und zu arbeiten, was da ist. Ein kreativer Prozess.
Die Fahrt zum DM nach Paderborn fühlt sich nun an wie ein Ausflug ins Abenteuerland. Mittlerweile finde ich sogar am Putzen gefallen, wenn ich mir bewusst Zeit dazu nehme. Ich hänge meine Wäsche draußen auf, statt in meinem Wohnzimmer. Sie riecht nach Wind und Sonne, wenn ich sie zusammenfalte und in den Schrank lege. Und ich backe mein eigenes Brot. Meine Haare dürfen so liegen wie sie wollen, ich habe 6 bis 7 kg und fühle mich dabei irgendwie leichter und vor allem kraftvoller und freier.

Vor drei Monaten habe ich die Stadt hinter mir gelassen und bin an meinen Heimatort zurückgekehrt. Back to the roots sozusagen. Diese Entscheidung kam ziemlich überraschend. Ich war seit Wochen blockiert und wusste nicht so recht, was los war mit mir. Dann fuhr ich zu diesem Schreib-Workshop nach Wangerooge, schrieb eine Woche lang und schaute aufs Meer. Plötzlich kam die Klarheit: Mir fehlt die Weite! Der Blick in die Ferne, mit dem ich aufgewachsen bin. Tag für Tag saß ich in Köln an meinem Schreibtisch und schaute auf Betonwände. DAS hatte mich so wahnsinnig blockiert. Von dieser Erkenntnis bis zum Umzug nach Hause brauchte es noch drei Monate.
Dass ich drei Jahre nach meinem Aufbruch wieder in Hövelhof (das liegt – wie man es nimmt – am Arsch der Welt und / oder da, wo die Ems entspringt) landen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten. Meine Eltern wohl auch nicht. “Dich hatten wir schon längst abgeschrieben” kommentierte mein Vater meine Rückkehr vor ein paar Wochen in seiner charmanten ostwestfälischen Art.
Hier ist jetzt also meine Homebase, meine Dockingstation, in der ich mich zurückziehen und in die Weite blicken kann. Und von hier aus kann ich ausfliegen, in die Stadt, zu meinen lieben Freunden und in die weite Welt. Auch das gehört zu mir. Ganz klar.
Ich teile mir meine Dachgeschosswohnung inzwischen mit Menschen, die sich nach Ruhe, Abgeschiedenheit und schönen Gesprächen sehnen. Ob Freunde, Couchsurfer oder Geschäftsreisende, alle sind hier willkommen. Ich bin gerührt und dankbar, wie viele Leute den Weg in der kurzen Zeit schon hierher gefunden gehaben. So entstehen in meinem Nest immer wieder schöne Begegnungen, die mich im wahrsten Sinne des Wortes nähren.
Natürlich hat das Zusammenrücken mit der Familie seine Herausforderungen. Ich werde mit dem Älterwerden meiner Eltern konfrontiert und mit all den Themen, die noch zwischen uns stehen und geklärt werden wollen. Unsere Lebensmodelle könnten nicht unterschiedlicher sein und manchmal fühlt es sich an, als würden zwei Planeten aus verschiedenen Universen aufeinandertreffen. Das ist teilweise anstrengend – für beide Seiten. Und gleichzeitig fühlt sich genau das so… lebendig an.
Neulich las ich dieses wundervolle Sprichwort:
“Familie ist wie ein Baum. Die Zweige mögen in unterschiedliche Richtungen wachsen, doch die Wurzeln halten alles zusammen.”
Damit ist alles gesagt.
Und wenn es mal wieder “scheppert”, denke ich daran, was Charlie Chaplin in seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag sagte:
„Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten. Heute weiß ich, das ist das Leben!”
Ja, ich kann sagen, dass ich mir und meinem echten Leben schon einen großen Schritt nähergekommen bin. Die letzten drei Jahre erscheinen mir im Rückblick , als wenn ein viel zu eng geschnürtes Korsett, das ich mein Leben lang getragen habe, Tag für Tag ein kleines Stück nachgegeben hätte.
So ganz abgelegt habe ich es noch nicht, dieses Korsett. Die Angst, dass ich ohne das Teil in mir zusammensacke, ist wohl noch zu groß. Vielleicht muss ich das ja aber auch gar nicht. Vielleicht ist ein loses Korsett, das viel Luft zum Atmen lässt, ja ganz genau richtig für mich.